IM FOKUS: RE-RENDERING PERSPECTIVES
Das Aufbrechen gewohnter Perspektiven wird im gesellschaftlichen Diskurs heute stärker eingefordert als je zuvor. Im Programmschwerpunkt 2024 stellt die ethnocineca diese Notwendigkeit von und Forderung nach einem Perspektivenwechsel in all seinen Facetten in den Mittelpunkt.
Wie kann Film dazu beitragen, Machtstrukturen zu hinterfragen und historisch gewachsene Zusammenhänge neu zu beleuchten, traumatische Lebensereignisse aufzuarbeiten oder die Beziehungen zwischen dem Menschen und der Natur neu einzuordnen? Welche filmischen Mittel werden dafür gefunden? Welche Veränderungen wirken im Laufe der Zeit durch kulturellen Wandel, soziale Transformation, politische Umbrüche oder andere externe Einflüsse auf unsere Perspektiven auf die Welt und unsere persönlichen Biographien ein?
Die vier Fokusprogramme der ethnocineca 2024 widmen sich dem Re-Rendering von Perspektiven und eröffnen einen thematisch breit gestreuten wie differenzierten Zugang zu der Kraft von Film, Veränderung anzustoßen und andere Sichtweisen aufzuzeigen.
RE-ASSEMBLING STORIES: REVEALING THE CATALYTIC POWER OF FILM
Wie kann ein Filmprojekt an sich dabei helfen, sich persönlichen Fragen zu stellen, familiären Herausforderungen zu begegnen oder unvermittelbare Erfahrungen anderer nachvollziehbar zu machen? Wie kann es gelingen, nicht Erlebbares, nicht Greifbares oder nicht Teilbares zu evozieren und filmisch darzustellen?
In diesem Fokusprogramm nähern sich die Regisseur*innen durch Dialog, Reenactment, Rollenspiel und Inszenierung den eigenen Emotionen und denen ihrer Protagonist*innen. Der Akt des Filmens wird als ein kathartisches therapeutisches Mittel eingesetzt, um Verborgenes ans Licht zu bringen, dem Undarstellbaren eine Form zu geben und neue Sichtweisen auf eigene Erfahrungen zu ermöglichen. Die evokative Kraft von Film findet ihre Entfaltung in den durch die Kamera erzeugten Begegnungen. Film wird zu einem wirkmächtigen Instrument für Exploration und Expression von Gefühlen, Sorgen und Ängsten und kann so letztlich auch eine zwischenmenschliche Ebene erschließen, die ein Hineinversetzen in die Lebensrealitäten anderer und das Erkunden eigener Emotionen ermöglicht.
Filme
RE-FRAMING IMBALANCES: EXAMINING POSTCOLONIAL (DIS)ORDERS
Imperialistische und koloniale Vergangenheit hallt in globalen Beziehungen und lokalen Lebensrealitäten nach. Ihre Spuren haben sich in Erinnerungen, Körper und Landschaften eingeschrieben und finden sich in gelebter Praxis wie medialen Repräsentationen wieder. Die Filme dieses Fokusprogramms erkunden und durchleuchten historisch gewachsene Verbindungen entlang ihrer Bruchlinien.
In unterschiedlichen Erzählformen benennen sie Gewalterfahrungen, decken Machtgefälle auf, hinterfragen Mechanismen kapitalistischer Ausbeutung und sezieren das Netz neokolonialer Verflechtungen. Politisch wie medial einseitig dominierten Deutungshoheitsdiskursen wird der Spiegel vorgehalten und blinde Flecken der Geschichtsschreibung sichtbar gemacht. In den Filmen entfaltet sich das Potential des Dokumentarfilms zur kritischen Analyse. Die Aufrechterhaltung neokolonialer Abhängigkeitsverhältnisse wird ebenso angeprangert wie die Verdrängung des historischen Unrechts aus dem kollektiven Bewusstsein.
Filme
RE-CAPTURING EMOTIONS: COPING WITH TRAUMATIC EXPERIENCES
Welche Möglichkeiten eröffnet Film für Menschen, um mit privaten Schicksalsschlägen, häuslicher Gewalt, politisch motivierten Gewalterfahrungen oder Kriegstraumata umzugehen? Die Aufarbeitung von persönlichen Leidensgeschichten und traumatischen Lebensereignissen steht im Mittelpunkt dieses Fokusprogramms. Der Akt des Sprechens über verdrängte Erinnerungen, erduldetes Leid und Zäsuren im privaten Umfeld wird zu einer Katharsis für die Betroffenen.
Die Regisseurinnen stellen ihre filmischen Gestaltungsformen, Erzählweisen, Bildsprache und Montage in den Dienst einer empathischen Zuwendung und emanzipatorischen Selbstermächtigung ihrer Protagonist*innen und ermöglichen so auch dem Publikum, sich in die Lebensgeschichten hineinzuversetzen, das Erfahrene nachzuempfinden und mitzufühlen. Die vier Filme offenbaren eine der wirkmächtigsten Fähigkeiten von dokumentarischer Filmkunst: Über das Zuhören und zu Wort kommen lassen eine Verbindung zwischen Zuseher*innen und Gefilmten herzustellen. Alles beginnt mit dem Brechen des Schweigens.
Filme
RE-THINKING DEPENDENCIES: EXPLORING HUMAN-NATURE ENTANGLEMENTS
Das Dilemma der Distanzierung des Menschen von der Natur und der zugleich bestehenden Abhängigkeit von dieser als Lebensgrundlage hat die aktuell auf uns zukommenden multiplen planetarischen Krisen zur Folge. Durch poetische Abstrahierung und Fiktionalisierung sowie aktivistische Direktheit regen die FIlmmacher*innen zum Reflektieren und Nachdenken über diese Ambivalenz an.
Das Fokusprogramm widmet sich unterschiedlichen Aspekten der Reziprozität von Mensch und Natur. Durch jeweils spezifische filmische Stilmittel und Techniken gelingen eindringliche Bestandsaufnahmen, die neue Perspektiven auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Verstrickungen und Beziehungen des Menschen zu seinem Lebensraum erschließen. Die Filme appellieren dabei in ihrer Haltung nicht bloß an die Dringlichkeit eines Umdenkens, sondern stellen auch grundlegende Fragen zu unserer Verbindung mit dem Planeten und seinen Lebewesen.