IM FOKUS: LIMINALITIES
Im Programm 2023 legt die ethnocineca den Fokus auf Übergangsphasen und Zwischenzustände, die in mikrokosmischen Betrachtungen persönlicher Biographien erkennbar werden, oder sich in umfassenden soziopolitischen Reflexionen von gesellschaftlichem Wandel widerspiegeln. Das Interesse gilt filmischen Annäherungen an und Reflexionen über jene Lebensabschnitte oder gesellschaftlichen Schwebezuständen, in welchen Altes schon vergangen, das Neue aber noch nicht erreicht ist.
Die Filme der Fokusprogramme stehen ganz im Zeichen persönlicher Konflikte und gesellschaftlicher Herausforderungen, die sich in diesem Zustand des Unabgeschlossenen, Unausverhandelten oder Ungewissen befinden. Darüber hinaus beleuchten wir hybride filmische Zugänge zu Inszenierungen und Erzählstrategien, um diese Fragen über das dokumentarische Format hinaus zu ergründen. So geht es auf inhaltlicher wie formaler Ebene um das Hinterfragen und Aufbrechen von gewachsenen Strukturen, Dependenzen, Interessen, Normen und Dogmen.
Die vier Fokusprogramme eröffnen einen differenzierten Zugang zu den Nuancen von Schwebezuständen und den darin wirkenden Kräften.
BLURRED BOUNDARIES | HYBRID CINEMA BETWEEN FICTION, DOCUMENTARY & THE ETHNOGRAPHIC
Im Fokusprogramm BLURRED BOUNDARIES verschmelzen die Grenzen zwischen fiktiven Inszenierungen und dokumentarischen Erzählstrategien. In der Verschränkung von ethnographischer und dokumentarischer Praxis mit Fiktion entstehen neue filmische Ausdrucksformen.
SWIRLING IN THE DREAMS widmet sich dem schamanischen Weltbild in seiner rituellen Praxis und der tradierten Geisterwelt in Taiwan. Alltägliches mischt sich mit imposant in Szene gesetzten mythologischen Bilderwelten. In L’ÎLOT werden die Grenzen zwischen filmischer Fiktion und dokumentarischem Charakter in der filmischen Erzählung aufgelöst. Magischer Realismus verschwimmt mit Szenen von Streifzügen zweier Wachleute im Schweizer Lausanne. Der konzeptionelle Heimatfilm KORENI setzt das Publikum zusammen mit den Protagonist*innen in den abgeschlossenen Raum eines Taxis. Zyklisch erzählt, erschafft der Film in den Geschichten der Taxigäste ein poetisches Bild über das kroatische Heimatdorf der Filmemacherin. ANHELL69 wird als Film selbst zum Teil der Inszenierung eines Portraits einer ausgegrenzten queeren kolumbianischen Generation. Durch die Verwebung von fiktionalem Spielfilmmaterial mit dokumentarisch protokollierten Erfahrungen der Betroffenen, wird die Filmkunst selbst zum Ausdruck des Aufbegehrens gegen das Establishment.
Filme
BETWIXT AND BETWEEN | EXPERIENCES OF FLIGHT & MIGRATION
BETWIXT AND BETWEEN widmet sich in vier Filmen dem Thema Flucht als liminale Erfahrung. Der Fokus liegt sowohl auf den Fluchterfahrungen zwischen Aufbruch und Ankommen, als auch auf der Ungewissheit und dem Dazwischen-sein nach den Strapazen der Flucht.
In NOUS AUTRES tauschen Geflüchtete im Laderaum eines LKWs ihre Fluchterfahrungen aus. In diesem nachgestellten Setting werden in poetisch reflektierenden Filmaufnahmen ihre Erzählungen mit historischen transeuropäischen Geschichten von Flucht verstrickt. Die Filmemacher in LO QUE QUEDA EN EL CAMINO begleiten eine alleinerziehende Mutter mit ihren minderjährigen Kindern auf ihrer über 5.000 Kilometer langen Flucht von Guatemala an die US-amerikanische Grenze. In NOTES ON DISPLACEMENT nimmt der Regisseur selbst mit der Kamera die Perspektive eines Fliehenden ein und schließt sich einer Gruppe Flüchtender an, die über die sogenannte Balkanroute von Griechenland nach Deutschland gelangen will. Mit stetiger Ausgrenzung konfrontiert, befinden sie sich die Protagonist*innen im Film EN ATTENDANT LE DÉLUGE in einem kafkaesken Limbo. Zwischen lebensnotwendiger Dialyse und dem Hoffen auf Aufenthaltsgenehmigung in Belgien entsteht ein von Menschlichkeit geprägtes Bild über das Warten in Ungewissheit.
Filme
REVISITING RELATIONS | SHIFTING ROLES AND EXPECTATIONS
Die Filme in REVISITING RELATIONS verhandeln die Dynamiken zwischen gesellschaftlichen Erwartungshaltungen und der Fragilität innerfamiliärer Beziehungsgeflechte von Müttern und ihren Kindern. Von außen herangetragene Vorstellungen und Rollenbilder werden hinterfragt und der Blick auf das Familienleben gelenkt.
Im familiären Videoarchiv entdeckt die Regisseurin von UNE VIE COMME UNE AUTRE eine verborgene Geschichte ihrer Mutter und findet eine Erzählung, die sie der Gefühlswelt ihrer Mutter näherbringt. In ebenso bewegender Intimität nähert sich die Filmemacherin in CLOUDY MEMORIES ihrer eigenen Familie, indem sie die voranschreitende Alzheimererkrankung der Großmutter begleitet und dabei die Rolle der Mutter beleuchtet, die die Pflege der Oma übernimmt. In DESTINY lernen wir eine junge Frau kennen, die sich nach dem Tod der Mutter allein um ihren geistig behinderten Vater kümmert. Dem innerfamiliären Druck zum Trotz, der tief in traditionellen gesellschaftlichen Rollenbildern verankert ist, hält sie an ihrem Traum fest, eines Tages Medizin zu studieren. Der Filmemacher von MAMÁ reflektiert die Beziehung zu seiner Mutter in einem gesellschaftlichen Umfeld, das von Gewalt gegen Frauen geprägt ist. In Annäherung zueinander schließen sich die Wunden der Vergangenheit.
Filme
CONTESTED CONNECTIONS | A MORE THAN HUMAN WORLD
Das Programm CONTESTED CONNECTIONS ergründet Mensch-Natur-Beziehungen und eröffnet neue Reflexionsräume, um über die untrennbare Verflechtung des Menschen mit seinem Lebensraum und der Tierwelt nachzudenken. Die Filme laden zu einem anderen Blick auf die sich am Horizont der nahen Zukunft abzeichnenden Klimakatastrophe ein.
Der Essayfilm ALL OF OUR HEARTBEATS ARE CONNECTED THROUGH EXPLODING STARS erkundet zehn Jahre nach der Seebebenkatastrophe von Fukushima die unsichtbaren Bande zwischen Menschen und Lebewesen und fragt, wie Mensch und Natur nach einem Trauma wieder zusammenfinden können. Von saisonalen Erntehelfer*innen auf den Feldern Europas erzählt TERRA IN VISTA und portraitiert, wie diese im Einklang mit der Natur und in der Abwendung von gesellschaftlichen Normen zu sich selbst finden. VIDA FERREA folgt einem Zug quer durch Peru und erzählt von gesellschaftlichen Verwerfungen und Auswirkungen auf die Umwelt entlang der Eisenbahnstrecke, die quer durch Peru errichtet wurde, um die natürlichen Bodenschätze auszubeuten und so am kapitalistischen Weltmarkt teilzunehmen. Experimentell und spielerisch erforscht BEIJING ZOO den Lebensraum Tiergarten und die abstrakte Architektur, die der Mensch für sich und die Tiere geschaffen hat, und hinterfragt diesen künstlichen Begegnungsraum.