Die Wettbewerbe und Gewinnerfilme 2020
IDA – International Documentary Award
Kuration: Marie-Christine Hartig, Martin Lintner
Jury:
Christiana Perschon (Filmemacherin)
Stephanie Spray (UCL)
Daniel Haingartner (Filmemacher, Gewinner des Austrian Documentary Awards 2019)
Preisgeld: € 1.000.-
Preis präsentiert von: Weltmuseum Wien
Gewinner
ARGUMENTS
von Emmanuelle Manck, Olivier Zabat | Großbritannien, Frankreich 2019 | 108 Min. | OmeU
Jurystatement: Arguments ist ein faszinierender Film, der einen neuartigen therapeutischen Ansatz für die ansonsten stigmatisierte Erfahrung des Stimmenhörens darstellt, eine Erfahrung, die in der Psychiatrie typischerweise der Schizophrenie zugeschrieben wird. Mit eindeutigem Vertrauen und in Zusammenarbeit mit den ProtagonistInnen des Films, untersuchen die Filmemacher dieses Phänomen etwa als missverstandenen Teil der menschlichen Erfahrung, aber ohne dabei zu banalisieren, dass das Hören von Stimmen beängstigend und desorientierend sein kann und es schwierig ist, diese in ein soziales Leben zu integrieren. Den Filmemachern gelingt es auf kreative Weise, eine ansonsten interne und für andere schwer verständliche Erfahrung hörbar und nachvollziehbar zu machen und damit sowohl thematisch als auch formal einen wichtigen Beitrag zum nicht-fiktionalen Kino zu leisten.
Nominierte Filme
EVA – Excellence in Visual Anthropology Award
Kuration: Hannah Hauptmann, Katja Seidel
Jury:
Martha-Cecilia Dietrich (Centre for Media, Culture and History, NYU; Universität Bern)
Mattijs van de Port (University of Amsterdam; VU University)
Christos Varvantakis (Goldsmiths, University of London; Athens Ethnographic Film Festival)
Preisgeld: € 1.000.-
Preis gestiftet von: Institut für Kultur- und Sozialanthropologie
Gewinner
A NEW ERA
von Boris Svartzman | China, Frankreich 2019 | 72 Min.
Jurystatement: In Boris Svartzmans „A new Era“ lernen wir die Menschen in Guangzhou, einer Flussinselgemeinde in Südchina, kennen. Die Insel in Guangzhou ist dazu bestimmt, ein Öko-Park für die BewohnerInnen der schnell wachsenden Vororte einer Großstadt zu werden. In atemberaubend schönen Einstellungen begleitet der Film den hartnäckigen Widerstand der DorfbewohnerInnen, von diesem Mega-Gentrifizierungsprojekt ausgerottet zu werden. Svartzman ist ein begabter Geschichtenerzähler, der sich gekonnt von den Mikroeinstellungen, in denen er anwesend ist, zu den größeren Themen bewegt, die die Widerstandshandlungen beeinflussen. Durch die Hervorhebung der vielfältigen Gefühlsebenen der DorfbewohnerInnen, die ein prekäres Leben in einer Situation unmittelbar bevorstehender Unsicherheit führen, werden ihre Wut, Angst, Großzügigkeit und Weisheit greifbar. Und doch geht die Geschichte über eine vereinfachte Darstellungen gerechtfertigten Widerstands hinaus, indem sie die komplexe soziale Dynamik zeigt, die sich angesichts von Enteignungen und Ungerechtigkeit ergibt. Der Filmemacher ist ein weiterer Akteur in der Geschichte. Es besteht eindeutig ein tiefes Vertrauensverhältnis und eine Komplizenschaft, die möglicherweise auf sein langfristiges Engagement für die Gemeinschaft über sieben Jahre zurückzuführen ist. Er scheint auch sehr auf die Gefahren eingestellt zu sein, die mit der Kamera verbunden sind, und er ist eindeutig vorsichtig und sensibel, um die DorfbewohnerInnen nicht zu gefährden. Der Kontrast, den die Bilder von „alten“ und „neuen“ Welten erzeugen, und die Art und Weise, wie ProtagonistInnen (mit all ihren Widersprüchen) dargestellt werden, heben aufrichtig die Komplexität des Lebens und des Lebens am Rande der Weltwirtschaft hervor.
Honorable Mentions
CRACKS
von Dimitra Kofti | Bulgarien, Deutschland 2018 | 55 Min.
Jurystatement: Der Film „Cracks“ vermittelt einen Eindruck von den sozialen und räumlichen Dimensionen einer „postsozialistischen“ „nach der Demokratie“ -Gesellschaft in Pernik, einer kleinen Stadt in Bulgarien, die einst im Zentrum der sowjetischen Industrialisierung stand. Es ist ein Testament einer Stadt und ihrer Menschen, die zwischen Wirtschaftssystemen und ideologischen Epochen stehen und sich dennoch stark im Wandel befinden. Die Anthropologin Dimitra Kofti kreiert eine überzeugende Kollage verschiedener ProtagonistInnen und Generationen und ihrer Flugbahnen inmitten breiterer globaler und transnationaler Prozesse in der Region. Sie vermittelt das Gefühl der Desillusionierung und Nostalgie der Menschen für eine ferne Vergangenheit und eine alternative Zukunft. Jede und jeder der ProtagonistInnen erzählt eine Mikro-Geschichte die gemeinsam einen zusammenhängenden Gesamtfilm ausmachen. Der Film verbindet symbolisch kraftvolle Bilder und Geschichten aus Vergangenheit und Gegenwart und zeigt Kontinuitäten, Brüche und stille Veränderungen des Lebens der Menschen, ihrer Stadt und ihrer imaginären Zukunft.
ZAGROS
von Ariane Lorrain, Shahab Mihandoust | Iran, Kanada 2018 | 58 min
Jurystatement: Zagros ist ein wunderschöner Film über das alte Handwerk der Teppichherstellung, das die FilmemacherInnen elegant mit dem Leben ihrer MacherInnen verweben. Den RegisseurInnen gelingt es, über das Medium Film eine komplexe und farbenfrohe visuelle Ethnographie zu kommunizieren, die den Produktionsprozess und den Alltag ihrer MacherInnen meisterhaft miteinander verbindet, auf eine Weise, die den geschickten Fingern der Teppichweberinnen ähnelt, wenn sie die Fäden zusammenweben in der Eröffnungsszene des Films. Der Film ließ uns die Kriterien vergessen, die wir für den EVA-Preis festgelegt hatten, und obwohl wir einige Fragen hatten, wie z. B. wer hinter dieser Kamera steht, stellten wir auch unsere Fragen. Mit einer Kamera, die eindeutig in die Welt vor ihr verliebt ist und Farbe, Textur, Bewegung und Gesang einfangen möchte, ist dies ein Film, der es im Wesentlichen schafft, Intimität, Entscheidungsfreiheit und Humor durch sensorische Erfahrungen des Alltags zu vermitteln und dem Publikum ein Gefühl des Ortes und des Seins in der Welt ermöglicht.
Nominierte Filme
ADA – Austrian Documentary Award
Kuration: Marie-Christine Hartig, Martin Lintner, Katja Seidel
Jury:
Djamila Grandits (Kaleidoskop Film und Freiluft am Karlsplatz, frameout –digital summer screenings)
Nicole Kandioler (Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft, Universität Wien)
Aksel Stasny (Filmemacher)
Preisgeld: € 1.000.-
Preis gestiftet von: Verwertungsgesellschaft der Filmschaffenden
Gewinner
WEIYENA – THE LONG MARCH HOME
von Judith Benedikt, Weina Zhao | Österreich, China 2019 | 96 Min. | OmeU
Jurystatement: Eine schonungslose Reise in die Vergangenheit auf dem langen Weg zu sich selbst. Eine junge Frau, zwei Welten, ein Manöver durch die Erinnerungsnetze von Eltern und Großeltern, die die Diktatur Mao Zedongs erlebt und überlebt haben. Durch jedes Bild dringt das Anliegen, den Geschichten und Menschen, die sie erzählen und verschweigen, bestmöglich gerecht zu werden. Film hat hier weniger die Aufgabe, Erinnerung zu sortieren, sondern triggert die Auseinandersetzung mit Vergangenheit, Gegenwart und deren Gleichzeitugkeiten. Roh, manchmal ausfransend, führt die dokumentarische Außeinandersetzung immer wieder zu Momenten großer Dichtheit und berührender Komik. So etwa in der Szene, in der die Familie gemeinsames Kochen performt und die Großmutter wieder und wieder ihren Auftritt verpasst. Oder im Gespräch mit derselben Großmutter deren Mao-Zedong-Figur im Regal, nicht zu ihren kritischen Aussagen über das Regime zu passen scheint.
Die Jury vergibt den diesjährigen ADA Preis an einen Film, der technisch nicht nach Perfektion strebt, aber das Wagnis einer Konfrontation der eigenen Herkunftsgeschichte ernst nimmt und dem eine hochsensible Auseinandersetzung gelingt. Diese Sensibilität in der Perspektivierung ist auch da am Werk, wo der Filmdie Migrationsgeschichte der Familie erzählt, deren Geschichte auf mehreren Ebenen auch eine Kino-Geschichte ist.Die Filmemacherin verwebt die archivierten Filmbilder zweier Generationen vor ihr mit den Bildern ihres Films und lässt diese fragmentiert vom Filmschaffen längst vergangener Jahrzehnte erzählen, so kommen komplizierte Verstrickungen, widersprüchliche Bezugnahmen sowie latente Bedeutungen in den Blick.
Honorable Mention
SOLO
von Artemio Benki | Argentinien, Tschechien, Frankreich, Österreich 2019 | 85 Min.
Jurystatement: Dirigiert mit erzählerischer Präzision und mit Liebe zum Detail trägt uns Solo durch das Leben von Martin, einem jungen Pianovirtuosen, der nach seinem Zusammenbruch vor vier Jahren in die argentinische Psychiatrie El Borda eingewiesen wurde. Durch die organische Filmsprache des Regisseurs Artemio Benki bekommen wir einen Einblick in Martins Leben, seinem Umgang mit Schizophrenie und seine Bemühungen um eine Reintegration in die Welt außerhalb der Institution. Sowohl in den manchmal fast lyrisch wirkenden Dialogen zwischen Martin und seinem Psychotherapeuten, in berührenden Darstellungen von Freund*innnenschaft, aber auch im geschickten Einsatz von Ton, wenn etwa jeder Zug an Martins Zigarette zu einem beklemmenden akustischen Erlebnis wird, erzählt der Film in kunstvollen Bildern vom Dilemma, sich nicht von seinen Träumen lösen zu können. Solo ist ein gelungenes Werk, das durch elegante narrative Führung und mit wenigen Worten eine komplexe Welt zeichnet, in der wir uns vermutlich alle irgendwie wiedererkennen können. Zusätzlich zum ADA Filmpreis 2020 vergibt die Jury eine lobende Erwähnung an einen Film, der beim Zusehen das Gefühl vermittelt, Plot und Protagonisten zwischen den Zeilen zu lesen, das wird jedoch im Rückblick als subtil orchestrierte, gestalterische Entscheidung kenntlich
Nominierte Filme
ISA – International Shorts Award
Kuration: Rocío Burchard, Saskya Tschebann
Jury:
Daniel Haingartner (Filmemacher, Gewinner Austrian Documentary Award 2019)
Lisa Mai (dotdotdot Filmfestival, Kaleidoskop – Film und Freiluft am Karlsplatz)
Jan-Hendrik Müller (Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaften, Universität Wien)
Preisgeld: € 500.-
Preis gestiftet von: Verwertungsgesellschaft für audio-visuelle Medien
Gewinner
THOSE WHO WAIT
von Steph Beeston | Philippinen, Großbritannien 2019 | 20 Min. | OmeU
Jurystatement: Wir die Jury des ISA Awards freuen uns mitteilen zu dürfen, dass wir uns für den Film „Those who wait“ von Stephanie Beeston als Preisträger entschieden haben. „Those who wait“ ist ein beeindruckender Film über eine Familie und deren Leben auf einem Friedhof in Manila. Der Film führt uns auf eine sensible Art das Nebeneinander von Tod und Leben vor Augen. Durch den zurückhaltenden und unaufgeregten Blick der Filmemacherin entfalten sich spannende Mikrogeschichten, die einen an der ungewöhnlichen Alltäglichkeit des Lebens am Friedhof und den Hoffnungen, Sorgen und Problemen der Akteur*innen teilhaben lassen. Der ruhige Zugang und starke Sinn für Gestaltung überzeugt in Bild, Ton und Musik und macht den Film so zu einem wertvollen Beitrag für das non-fiktionale Kino.
Nominierte Filme
ESSA – Ethnocineca Student Shorts Award
Kuration: Nóra Soponyai, Simone Traunmüller
Jury:
Lisa Mai (dotdotdot Filmfestival, Kaleidoskop – Film und Freiluft am Karlsplatz)
Mattijs van de Port (University of Amsterdam; VU University)
Christos Varvantakis (Goldsmiths, University of London; Athens Ethnographic Film Festival)
Preisgeld: € 500.-
Preis gestiftet von: ethnocineca
Gewinner
ABOUT LOVE ON A SMALL ISLAND
von Elaheh Habibi | Iran, Großbritannien 2018 | 26 Min.
Jurystatement: About Love on a small Island ist ein wunderbarer, reichhaltiger und komplexer Film, der ein herausragendes Beispiel dafür ist, was ein ethnografischer Dokumentarfilm leisten kann. Der Film erforscht die Beziehungen zwischen einem Mann und seinen beiden Frauen auf der Insel Qeshm (Iran), in ihrem Alltag und ihren Interaktionen. Er präsentiert eine aufschlussreiche, intime und aufrichtige Darstellung des Lebens und der Liebe der ProtagonistInnen. Die Filmemacherin konzentriert sich auf das Alltägliche statt auf spektakuläre oder emblematische Aspekte der Geschichte, und trotz einfacher moralischer Schlussfolgerungen gelingt es ihr, die unglaubliche Komplexität der Ansichten und Gefühle der ProtagonistInnen in ihren emotionalen und häuslichen Arrangements zu dokumentieren. Und im Gegenzug bringt sie die ZuschauerInnen dazu, über eigene Stereotypen und Vorurteile nachzudenken.
Honorable Mention
THE OUTLANDER
von Ani Antonova | Österreich 2018 | 5 Min.
Jurystatement: The Outlander ist ein Film, der sich einer einfachen Kategorisierung entzieht, der spielerisch mit Formen und Genres experimentiert und eine ethnographisch reichhaltige Erzählung liefert. Wir würden uns wünschen, in Zukunft mehr solcher Experimente zu sehen.